Ich gehe mal davon aus, dass der Mehrheit nur Auszüge bekannt sind. Ich gehe aber auch davon aus, dass das Thema interessiert. Deshalb hier der ganze Text der Rede von Schulz vor dem erlauchten auserlesenem Publikum, bei dem wieder das gemeine Volk weitgehend ausgegrenzt blieb.
Rede von Werner Schulz beim Festakt "20 Jahre Friedliche Revolution"
Herr Bundespräsident, Frau Bundeskanzlerin: Der Kommentar zu diesen eindrucksvollen und soeben gesehenen Bildern könnte lauten: In einer Weise, wie es die Weltgeschichte noch nicht gesehen, hat das Volk in Deutschland seine Revolutiongemacht. Hat es mit wenigen Ausnahmen die Gewaltäußerungen gescheut.“Das hat kein Drehbuchautor geschrieben, kein Westkorrespondent und schon gar nichtdie Leipziger Volkszeitung. Sondern die Worte stammen von Robert Blum, dem Leipziger Deputierten der Frankfurter Paulskirchenversammlung. Er starb für die Freiheit und wurde am 9. November 1848 hingerichtet. Ein Tag, der seitdem unsere
Nationalgeschichte beschreibt. Die bürgerliche Revolution mit ihrem Ringen um Demokratie und Einheit war gescheitert. Was blieb, war die deutsche Dauerhoffnung, dass es die Enkel besser ausfechten werden.
Es sollte aber lange dauern und viele Opfer kosten, bis 1989 die gewaltlose Freiheitsrevolution in Erfüllung ging.
Doch die kam nicht aus heiterem Himmel, war kein spontanes Aufbegehren, sondern hatte einen langen Vorlauf. Mit dem Sprachwitz von damals würde der Volksmund
heute sagen: Was lange gärt wird Mut. Denn Bürgermut gehörte schon dazu, im Herbst 89 auf die Straße zu gehen, um gegen Unfreiheit, Bevormundung, Willkür und Lüge und gegen ein bis an die Zähne bewaffnetes Regime zu demonstrieren.
Nur unbedarfte Beobachter oder Zyniker bezeichnen das heute als Feierabend- oder Spaziergängerrevolution.
Im kollektiven Gedächtnis warnten die Jahreszahlen 1953, der Volksaufstand in der DDR, 56 die Aufstände in Polen und Ungarn, 68 der Prager Frühling – als die Versuche, das System zu überwinden oder umzukrempeln, brutal niedergeschlagen wurden. Und wem das nicht bewusst war, der bekam Anfang Juni 89 in Peking vor Augen geführt, wie kommunistische Machthaber auf Demokratiebegehren reagieren.
Die SED-Führung hat das Massaker auf dem Tien-An-Men als Niederschlagung der Konterrevolution gebilligt und als Drohung benutzt. Noch immer heißt dieser Platz makabrerweise Platz des himmlischen Friedens. Erst vor wenigen Tagen zog dort die Armee, die sich noch immer Volksbefreiungsarmee nennt, streng abgeschirmt vom
Volk an der Parteiführung vorbei. Nein, die kommunistischen Staaten Osteuropas sind nicht zusammengebrochen oder implodiert. Gesellschaften brechen nicht einfach zusammen. Das zeigen China,
Nordkorea oder Kuba. Und Revolutionen vollziehen sich nicht im Selbstlauf. Sie ereignen sich dann, wenn die
oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen. Wenn Menschen den Mut fassen, etwas zu tun und zu wagen, wozu sie lange nicht bereit waren. Das war im Herbst 89 der Fall. Oder um der Implosionstheorie und den Naturwissenschaften unter uns ein besseres Anschauungsbild entgegenzuhalten; die DDR-Gesellschaft befand sich eher im Zustand einer gesättigten Lösung, die klar und durchsichtig erscheint. Nur eine kleine kritische Masse reicht aus und der Zustand
schlägt vehement um. Es kommt zum massenhaften Ausflocken.
Es war der entscheidende Moment einer fortwährenden Auseinandersetzung mit dem kommunistischen System und seiner inneren Zerrüttung. Den unter Stalin errichteten Ostblockstaaten hatte es von Anbeginn an demokratischer Legitimation gefehlt.
Deswegen standen die Forderungen nach Freiheit und Selbstbestimmung im Mittelpunkt der Ereignisse. Fand die wahre und folgenreiche Gedenkfeier des 200. Jahrestages der französischen Revolution im Osten Europas statt. Wurde das gelobte Leipzig tatsächlich zum Paris.
Über die Ursachen auslösenden Faktoren, den Werdegang, das Warum und Wie sind in diesem Jahr etliche Bücher erschienen, die das beschreiben und analysieren. Um es auf wenige Worte zu bringen: Die gläubigen nennen es einen Segen oder ein Wunder.
Andere sprechen von extremem Glück. Sicher – die KSZE, die Entspannungspolitik, die russischen Dissidenten, KOR, Charta
77, Solidarnosc, der konziliare Prozess, die Bürgerrechtler, das Neue Forum, die Grenzöffnung in Ungarn, der polnische Papst, Gorbatschow – das alles hat eine Rolle gespielt.
Wobei die Reformpolitik Gorbatschows nicht nur aus freien Stücken und gutem Herzen kam. Seine Machtübernahme war bereits ein Ergebnis der tiefen Systemkrise. Und als sich im Frühjahr 89 die ruhmreiche Rote Armee geschlagen aus Afghanistan zurückzog, waren auch die Grenzen der militärischen Intervention deutlich geworden. Mit Glasnost und Perestroika wollte Gorbatschow das System stabilisieren und nicht
den Warschauer Pakt und die Sowjetunion auflösen. Dass er das und die deutsche Einheit dennoch zugelassen hat, dafür gebührt ihm nach wie vor Dank. Peinlich finde ich es hingegen, wenn einem ehemaligen in Dresden stationierten KGBOffizier, der zum Schießen bereit war und der als Präsident und Ministerpräsident für schwere Menschenrechtsverletzungen in Russland mitverantwortlich ist, der sächsische Dankesorden überreicht wird. Gerade der Freistaat Sachsen sollte wahrlich einer anderen Tradition verpflichtet sein.
Heute vor 20 Jahren sah die Messestadt Leipzig wie Wallensteins Lager aus. Auf Weisung von Honecker und Mielke sollte die Konterrevolution im Keim erstickt werden. Man war angeblich auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete. Diesen Satz hat Erich Loest im Film Nikolaikirche dem Stasi-Einsatzleiter in den Mund gelegt. Das
gleiche Zitat wird auch Horst Sindermann, dem letzten SED-Volkskammerpräsidenten, zugeschrieben. Es klingt einleuchtend – nur der Satz ist falsch. Mit der Opposition unterm Kirchendach war man bis dahin durchaus fertig geworden. Kerzen hätte man löschen können. Aber die Lebenslichter von Tausenden auszublasen, dazu fehlte Gott
sei Dank die Kaltblütigkeit und versagte die Befehlskette.
Die unerwartete Übermacht von 70 000 hatte alle Einsatzpläne zunichte gemacht und übertraf die Kapazität der geplanten Internierungslager. Dass am selben Tag nur wenige Kilometer von Leipzig entfernt, in Halle, eine kleinere Demonstration noch brutal zerschlagen wurde, bestätigt diese Einschätzung.
Teil 2 folgt anschließend wegen Überlänge